So endet keine Hausse - von Daniel Haase

Nach Börsenaltmeister Andre Kostolany wird eine Hausse in der Panik geboren. Sie wächst in der Angst, reift im Optimismus und stirbt in der Euphorie. Wo stehen wir aktuell?

Halb im Scherz, halb im Ernst empfahl ich im Spätsommer 2007 in einem Vortrag vor meinen Mandanten erstmals ein Abo der bekannten, deutschen Programmzeitschrift „HÖRZU“. Die Vorteile liegen meines Erachtens heute wie damals klar auf der Hand: Der Zeitaufwand für das Studium der „HÖRZU“ ist für Börsianer recht überschaubar, denn die Redaktion widmet sich nur äußerst selten Finanzmarktthemen. Wenn sie jedoch ein solches aufgreift, dann darf der Leser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sich die allgemeine Stimmung in Bezug auf dieses Thema einem signifikanten Wendepunkt nähert. „Reich mit Aktien“ lautete der Titel, der im Sommer 2007 mein Interesse weckte. In der Vorweihnachtzeit doppelte die TV-Zeitschrift mit einer Liste von acht oder zehn Aktien nach, welche die Leser mit Blick auf 2008 erwerben sollten. Seinerzeit waren die von mir systematisch erfassten Trendsignale weltweit bereits dabei, in den kritischen, roten Bereich zu tauchen (s. Abb. 1 u. 2). Rücksichtsvollerweise vermied es die HÖRZU während der dann folgenden Finanzkrise, ihre Leser mit irgendwelchen Updates zu den 2007er Titelgeschichten zu verunsichern. Das nächste Finanzmarktthema wurde erst im Frühjahr 2009 auf der Titelseite präsentiert. Zielsicher wurde ein weiterer Wendepunkt getroffen: „Fünf gute Gründe für eine Lebensversicherung!“ Allein schon diese zwei Signale rechtfertigen mein noch heute laufendes Abonnement.

Abb. 1 Für den Empiria-Brief werden täglich die mittelfristigen Trends für über 10.000 Aktien aus weltweit 65 Sektoren (Branchen, Regionen, Styles) gemessen. In Abb.1 werden die jeweiligen Monatsanfangswerte von Januar 2007 bis März 2024 graphisch dargestellt. Ist das jeweilige Sektorfeld blau markiert, überwiegen die Aufwärtstrends, bei rot die Abwärtstrends. Je klarer die Trendrichtung, umso kräftiger die Farbe. Die 2008er Finanzkrise zeichnet sich bereits im Sommer 2007 in den Signalen ab, die Erholung im Frühjahr 2009 ist ebenfalls auf breiter Front erkennbar. Quelle: www.empiria-brief.de   

Abb. 2 zeigt für die Jahre 2007-2009 den MSCI World Index (blaue Linie oben, linke Skala) sowie die Quote mittelfristiger Aufwärtstrends bei globalen Large Caps (schwarze Linie unten, rechte Skala). Es ist gut erkennbar, dass sich bereits ab dem zweiten Quartal 2007 eine zunehmend stärker werdende Divergenz aufbaut zwischen den sich bereits abschwächenden Trendsignalen (unten) und den nochmals anziehenden Indexkursen (oben). Die Kurse folgen dann ab 2008 der vorauslaufenden Schwäche bei den Trendstrukturdaten. Quelle: www.empiria-brief.de

Im Laufe der Zeit habe ich bemerkt, dass ein der HÖRZU durchaus vergleichbar guter Kontraindikator darin besteht, wenn ein und dasselbe Thema innerhalb weniger Tage unabhängig voneinander von mehreren Mandanten, Lesern oder befreundeten Fondsmanagern an mich herangetragen wird. Genau das ist mir in den zurückliegenden Tagen widerfahren. Die Frage, die mir unisono in nahezu allen Unterhaltungen gestellt wurde, lautete: „Wie weit können die Kurse überhaupt noch steigen bzw. wann startet denn nun (endlich) die Korrektur des bisherigen Kursanstiegs?“

Bevor ich auf diese Frage eingehe eine kurze Erläuterung: Untere und obere Trendwenden unterscheiden sich an den Aktienmärkten erheblich: Untere Trendwenden werden üblicherweise von Panik begleitet. Das aus technischer Sicht schöne an einer Panik ist, dass wir Menschen nicht lange in Panik verharren können. Wenn die Welt nicht untergeht, wird sich die Panik nach kurzer Zeit legen und die Kurse werden wieder steigen. Wenn Sie Panik messen, zum Beispiel durch starke Ausschläge in den Volatilitätsindizes oder extreme Börsenumsätze, dann sollten Sie sich gedanklich schon auf die bald eintretende Kaufgelegenheit vorbereiten. Obere Trendwenden sind ein anderes Kaliber. Sie werden zumeist durch Sorglosigkeit begleitet. Im Gegensatz zur Panik kann Sorglosigkeit – ob begründet oder nicht – viel länger anhalten. Untere Trendwenden sind ein Moment, obere ein Prozess. Kehren wir damit zurück zur Ausgangsfrage: Wann endet der laufende Börsenaufschwung?

Der Aufschwung gerät erst in Gefahr, wenn sich größere Divergenzen zwischen weiter steigenden Indexkursen und sich bereits verschlechternden Marktstrukturdaten entwickeln, analog zu den negativen Divergenzen im Sommer 2007 (Abb. 2) oder jenen im zweites Halbjahr 2021 (Abb. 3). Die gute Nachricht lautet: Bisher sind derartige Divergenzen nicht einmal im Ansatz erkennbar (s. Abb.3). Im Gegenteil: seit November 2023 haben sich die von uns erhobenen, globalen Marktstrukturdaten an jedem einzelnen Börsentag weiter verbessert. Sie bewegen sich im Einklang mit dem MSCI World Index aufwärts (s. Abb. 3). Natürlich schaue ich mir die Daten morgen wieder an, doch da sich Divergenzen über Wochen und Monate entwickeln müssen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es morgen mit dem laufenden Aufschwung vorbei ist, eher gering.

Abb. 3 zeigt für die Jahre 2021 bis 2024 den MSCI World Index (blaue Linie oben, linke Skala) sowie die Quote mittelfristiger Aufwärtstrends bei globalen Large Caps (schwarze Linie unten, rechte Skala). Dem 2022 Kursrückgang geht 2021 eine mehrmonatige, negative Divergenz voraus zwischen sich bereits abschwächenden Trendsignalen (unten) und noch steigenden Indexkursen. Für die seit November 2023 laufende Kurserholung ist hingegen keine Divergenz erkennbar. Zeitgleich mit dem Anstieg des MSCI World verbessert sich die Marktbreite bis zum heutigen Tag. Quelle: www.empiria-brief.de  

Wenn wir die Trendstrukturdaten tiefer analysieren und auf die Sektorenebene schauen (s. Abb.4), dann fällt auf, dass die Marktbreite nicht nur bei Technologie überzeugt. Auch bei Materials und Health Care verbesserten sich die Daten in den zurückliegenden Wochen markant. Zyklische Konsumwerte verbessern sich in Europa, Asien und Amerika. Die Industrie strotzt weltweit vor Kraft, der Finanzsektor ebenfalls. Selbst bei Nebenwerten sind erhebliche Verbesserungen in den Trendstrukturdaten erkennbar: Von den 600 Aktien im S&P Small 600 befanden sich Anfang November nur 25% in Aufwärtstrends, inzwischen sind es 53%. In China besteht erstmals seit langem eine Chance auf ein Ende des Bärenmarktes.

Abb. 4 zeigt für die Jahre 2020 bis 2024 die Monatsanfangswerte für die Quote mittelfristiger Aufwärtstrends über 65 globale Sektoren (Branchen, Regionen, Indizes, Styles). In der untersten Zeile sind die aktuellen Werte ablesbar. Es ist gut erkennbar, dass sich die Trendstrukturdaten in den zurückliegenden fünf Monaten in fast allen Sektoren signifikant verbessert haben. Ein Ende dieser Verbesserung ist derzeit nicht erkennbar. Quelle: www.empiria-brief.de

Wenn ich auf all diese Verbesserungen bei unseren Trendstrukturdaten blicke und zeitgleich die mir in den Gesprächen entgegengebrachte Skepsis gegenüber dem laufenden Börsenaufschwung Revue passieren lasse, dann drängt sich mir nur eine Antwort auf: „So endet keine Hausse!“

Selbstverständlich wird es auch in diesem Aufschwung Konsolidierungen und Korrekturen geben. Doch es könnte ziemlich viel Rendite kosten, in der Hoffnung auf diese über längere Zeiträume unterinvestiert zu bleiben. Wer zusätzliche Chancen sucht, sollte lieber über eine temporär überhöhte Aktienquote am Ende einer Korrektur, am Beginn einer Erholung nachdenken als über eine zu niedrige Aktienquote in der trügerischen Hoffnung auf eine bald einsetzende Korrektur.

Solange die Sorge vor einer Korrektur größer ist als die Sorge, diesen kräftigen Aufschwung zu verpassen, solange hat die Hausse gute Chancen, weiterlaufen. Dies gilt insbesondere, solange sich keine markanten negativen Divergenzen zwischen Indexverlauf und Trendstrukturdaten entwickelt haben und davon ist bisher überhaupt nichts zu sehen.


Daniel Haase ist seit 1990 an den Märkten aktiv. Die Hausse in den Neunzigerjahren hat er laut eigener Aussage «mit der dafür notwendigen, großen Portion Naivität» mitgenommen, Verluste nach dem Platzen der Blase durch «unverschämt viel Glück» vermeiden können.

Sein Wunsch, nie wieder vom Glück abhängig zu sein, trieb ihn vor 23 Jahren zur systematischen Marktanalyse. Das von ihm von 2002 bis 2006 entwickelte Trendanalyse-Modell wie auch seine Untersuchungen zur regelbasierten Aktienauswahl wurden von der Vereinigung Technischer Analysten Deutschlands 2009 und 2019 mit VTAD Awards ausgezeichnet.

Seit September 2023 ist Daniel Haase als Fondsmanager beim Düsseldorfer Vermögensverwalter WBS Hünicke für mehrere quantitative Anlagestrategien privater und institutioneller Investoren verantwortlich. Zuvor war er acht Jahre Asset Manager bei einem Hamburger Vermögensverwalter, davon fünf Jahre als Vorstand. Seine monatlichen Marktanalysen werden im Empiria-Brief veröffentlicht.

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